Radio Prag: Kapitel aus der tschechischen Geschichte
Der Beginn der Friedenskonferenz 1919
Vor 80 Jahren, Mitte Januar 1919, verliess ein Sonderzug Prag in Richtung
Paris. In ihm sassen Politiker, Journalisten und Experten, die den Standpunkt
der Tschechoslowakei auf der Pariser Friedenskonferenz vorstellen und
verteidigen bzw. darüber berichten sollten. Nach drei Tagen erreichte der Zug
die französische Hauptstadt, pünktlich zum Beginn der Pariser Friedenskonferenz
am 18. Januar 1919. Diese Verhandlungen und die Forderungen der
tschechoslowakischen Delegation sind Thema unseres heutigen Geschichtskapitels.
Zu diesem begrüssen Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, recht herzlich... und...
Als am 28. Oktober 1918 die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei ausgerufen
wurde, entstand ein Land ohne festgelegte Grenzen. Zu Beginn der
Friedenskonferenz waren die Vorstellungen der siegreichen Alliierten noch sehr
verschwommen, was das zukünftige Aussehen Mittel- und Osteuropas betraf. Die
Tschechen jedoch hatten bereits ihre konkreten Vorstellungen über dieses:
Im Westen des Landes beriefen sie sich auf das Historische Staatsrecht und
verwiesen darauf, dass Böhmen und Mähren seit Jahrhunderten eine Einheit
gebildet hätten. Deshalb müssten auch die mehrheitlich von Deutschen bewohnten
Gebiete zur Tschechoslowakei gelangen - ungeachtet dessen, dass deren Einwohner
sich lieber als Bürger Deutschlands bzw. des neuentstandenen Deutschösterreichs
sahen.
Im Osten dagegen zogen die Tschechen das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu
Hilfe. Die Slowaken seien den Tschechen so nahe, dass man von einer
tschechoslowakischen Nation sprechen könne, deshalb solle das überwiegend von
Slowaken bewohnte Oberungarn zum neuentstandenen Staat gehören. So natürlich uns
diese Forderung heute scheint, so neu war sie vor 80 Jahren, denn Tschechen und
Slowaken hatten niemals zuvor einen gemeinsamen Staat gebildet. Während die
Tschechen Jahrhunderte zu Österreich gehört hatten, war das Gebiet der heutigen
Slowakei ebensolange Bestandteil Ungarns gewesen. Die Friedenskonferenz sollte
über die zukünftige Grenze zwischen Ungarn und der Tschechoslowakei entscheiden.
Zudem sollte im Osten die Karpatho-Ukraine zu dem neuentstandenen Staat der
Tschechen und Slowaken dazukommen Ein entsprechendes Abkommen hatte der erste
tschechoslowakische Präsident Tomas Garruige Masaryk im November 1918 mit
Vertretern der Exilruthenen in den USA unterzeichnet. Die Tschechen erhoben
zudem Anspruch auf Teschen, ein Herzogtum an der mährisch-schlesischen Grenze,
das auch das wiederentstandene Polen für sich beanspruchte.
Neben diesen Grenzforderungen legten die Tschechen der Friedenskonferenz
ausserdem den Vorschlag zur Bildung eines Landkorridors zwischen der
Tschechoslowakei und Jugoslawien vor. Zur Friedenskonferenz waren auch
tschechische Experten für die Kolonienfrage gereist, die ihre Standpunkte über
die Zukunft der ehemals deutschen Kolonien vorbringen sollten. Als eine
mögliche, zukünftige tschechische wurde in der Presse über Togo spekulieret.
Zudem betrachtete sich die tschechoslowakische Delegation als Sprecher der im
deutschen Reich lebenden Sorben und versprach diesen, sich für deren Rechte
einzusetzen. Ausserdem forderte sie internationalen Schutz für die in Wien
lebenden Tschechen.
Auf die rund 100köpfige tschechoslowakische Delegation unter Führung des
Ministerpräsidenten Karel Kramar und des Aussenmnisters Edvard Benes wartete
also eine nicht gerade einfache Aufgabe.
Am 5. Februar 1919 kam der grosse Tag. Aussenminister Edvard Benes legte der
Zehnerkommission, die über das zukünftige Aussehen Europas entschied, den
tschechosloawakischen Forderungskatalog vor. Dreieinhalb Stunden erläuterte
Benes die einzelnen Punkte. Mit dem Verlauf der Verhandlungen war der
tschechoslowakische Aussenminister zufrieden, wie er wörtlich erklärte:
"Unsere Forderungen werden überall auf der Konferenz ohne Widerspruch
akzeptiert- ja man ist ihnen gegenüber ungewöhnlich entgegenkommend eingestellt.
Wir können also heute mit Sicherheit sagen, dass unser Programm siegen wird.".
Die Kommission erfüllte die meisten Forderungen der Tschechen und Slowaken: Im
Westen wurde das historische Staatsrecht berücksichtigt, und die von Deutschen
bewohnten Gebiete Böhmens und Mährens wurden Bestandteil der Tschechoslowakei.
Im Osten wurden die Slowakei und die Karpathoukraine Teil des neuentstandenen
Staates. Doch die Grenzziehungen verliefen nicht ohne Konflikte.
Bereits am 23. Januar hatte die später als siebentägiger Krieg bezeichnete
militärische Auseinandersetzung zwischen Tschechen und Polen begonnen. Den
Streitapfel stellte das Kohleabbaugebiet um Teschen dar, das beide Staaten für
sich beanspruchten. Bereits am 30. Oktober 1918 hatte sich der Teschener
Nationalrat für einen Anschluss an Polen ausgesprochen, Ende Januar 1919
bereiteten die Polen die ersten Wahlen zum Sejm vor - und dieses auch in Teschen.
Die Tschechen wollten sich nicht vor vollendete Tatsachen gestellt sehen - und
so marschierten am 23. Januar 1919 kurzerhand tschechoslowakische Truppen nach
Teschen ein. Während der siebentägigen militärischen Auseinandersetzung fielen
auf beiden Seiten einige Dutzend Soldaten.
Zur Lösung des Konfliktes wurde schliesslich der Zehnerrat der Friedenskonferenz
um Hilfe gebeten. Dieser beschloss das Gebiet bis zur Durchführung einer
Volksabstimmung zunächst einer internationalen Komission zu unterstellen. Im
Juli 1920 wurde endgültig über das Schicksal Teschens entschieden: das Gebiet
wurde geteilt. Den grösseren Teil mit den Kohlegruben erhielten die Tschechen,
den kleineren die Polen. Die Stadt Teschen wurde ebenfalls geteilt in Cieszyn
und Cesky Tesin, wie die Tschechen ihren Teil umtauften.
Die Teschen-Frage wirkte sich negativ auf die tschechoslowakisch-polnischen
Beziehungen aus. Als sich nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 den
Polen die Chance bot, das tschechische Gebiet Teschens zu besetzen, zögerten sie
nicht lange. Am 2. Oktober, zwei Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens,
marschierten polnische Truppen in den tschechischen Teil ein und besetzten
diesen.
Heute ist die Stadt Teschen noch immer geteilt, doch die tschechisch-polnische
Zusammenarbeit wächst seit den politischen Veränderungen von 1989 stetig. Längst
ist eine Euregio gegründet worden, die Bürgermeister der beiden Städte arbeiten
eng zusammen, 10.000e Menschen überschreiten täglich die Grenze innerhalb der
Stadt - der Hauptgrund für den Besuch des Nachbarlandes ist aber eher profanen
Charakters. Während Polen in Tschechien vor allem billigeren Alkohol kaufen,
halten Tschechen in Cieszyn Ausschau nach billiger Kleidung.
Einen weiteren Konfliktstoff bildete die Grenze zu Ungarn. Auch hier verlief die
Grenzziehung nicht ohne Blutvergiessen und eine militärische Auseinandersetzung.
Im November 1918 marschierten ungarische Truppen über die Donau und besetzten
weite Teile der Slowakei. Nach dem Eingreifen der westlichen Alliierten zogen
sich die Ungarn zunächst zurück.
Zu einem erneuten Ausbrechen des Konfliktes kam es im Frühjahr 1919, nachdem
tschechoslowakische Truppen die von den Alliierten festgelegte Demorkationslinie
zu Ungarn überschritten. Die Ungarn zögerten nicht lange und besetzten im
Handumdrehen zwei Drittel des slowakischen Gebiets. Erneut mussten die
Alliierten den Tschechen beistehen. Nach entsprechende Drohungen zogen sich die
Ungarn im Mai 1919 hinter die Donau, die neue Grenze, zurück.
Auch im Westen verlief die Grenzziehung nicht ohne Blutvergiessen. Hier kam es
zwar zu keinen Zusammenstoss zweier Armeen, doch Tote und Verletzte waren
trotzdem zu beklagen. Ab November 1918 besetzten tschechoslowakische Truppen die
überwiegend von Deutschen besiedelten Gebiete. Nur vereinzelt wurde Widerstand
geleistet, im grossen und ganzen verlief die Besetzung friedlich.
Am 4. März 1919 riefen deutsche Politiker in Böhmen und Mähren zu
Demonstrationen auf. An diesem Tag versammelte sich in Wien zum ersten Mal das
neugewählte Parlament - ohne Vertreter aus den böhmischen Ländern, da diesen die
Teilnahme an der Wahl von tschechoslowakischer Seite verboten worden war. In
fast allen Städten mit überwiegend deutscher Bevölkerung fanden an jenem Tage
Demonstrationen statt. In einigen Städten gingen tschechische Trupen gegen die
Demonstranten vor, 54 Menschen kamen dabei ums Leben.
Die einzigen Forderungen, die nicht erfült wurden, waren die nach dem
Landkorridor zwischen der Tschechoslowakei und Jugoslawien. Auch für die Rechte
der Sorben im Deutschen Reich und der Tschechen in Wien konnte die
tschechoslowakische Delegaiton nichts erreichen. Doch sichtlich zufrieden
reisten die Politiker, Journalisten und Experten nach Unterzeichnung der
Friedensverträge im Sommer 1919 zurück nach Prag.
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