Die Stunde der Wahrheit

Wie die Europäische Union und ihre Mitglieder das wohl unter den Teppich kehren wollen? Es wird nicht leicht sein, den Vorschlag des tschechischen Parlamentspräsidenten Klaus, die Benes-Dekrete in den Beitrittsvertrag mit der EU aufzunehmen, sie somit von der EU bestätigen und zu einem Teil ihres Rechtskörpers werden zu lassen, als ein "Mißverständnis" hinzustellen, so wie das mit den Aussagen des Ministerpräsidenten Zeman geschehen ist. Vom kühl kalkulierenden Klaus, der sich noch nicht am Ende seiner politischen Karriere angelangt sieht, ist zu erwarten, daß er zu seinen Worten steht. Er hat sie nicht ohne Grund ausgesprochen.

Klaus' Vorstoß stellte einen Kurswechsel mit noch unabsehbaren Folgen für die Beitrittsverhandlungen mit der EU dar. Bisher hatte Prag versucht, das Thema Benes-Dekrete aus den Gesprächen mit Brüssel heraus- und auch sonst möglichst klein zu halten. Das ist den Tschechen lange Zeit gelungen, weil keiner der großen EU-Staaten, besonders auch Deutschland nicht, an diesen Komplex rühren wollte; er sollte den Erweiterungsprozeß nicht belasten. Doch unterhalb der Regierungsebene regte sich Widerstand gegen die Inkorporation von Rechtsnormen, die dem Rechtsverständnis der EU grundsätzlich widersprechen. Man erinnere sich: Mit den Benes-Dekreten und den auf ihnen gründenden Gesetzen waren die kollektive Enteignung, Entrechtung und Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg legalisiert worden. Sie sind, entgegen der Darstellung Zemans und des deutschen Bundeskanzlers, nach wie vor in Kraft. Das hat nicht nur der UN-Menschenrechtsausschuß, sondern jetzt auch der tschechische Parlamentspräsident bestätigt.

Ihm konnte nicht entgehen, daß immer mehr Europäer das Problem nicht übersehen wollen. Das österreichische Parlament forderte Prag schon zur Aufhebung der Dekrete auf. Das Europäische Parlament wiederholt diesen Aufruf jedes Jahr. Es war das sich wandelnde Meinungsbild, das Klaus zum Handeln veranlaßte. Er packt die EU an ihrer schwächsten Stelle: Wenn ihr die Benes-Dekrete bisher egal waren, dann kann sie auch nichts dagegen haben, sie in den Beitrittsvertrag aufzunehmen. Damit ist auch für die EU die Stunde der Wahrheit gekommen. Denn an dieser Frage wird sich zeigen, ob man sie weiter Rechtsgemeinschaft nennen kann oder nicht.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.2002, Nr. 46 / Seite 1