1. September 2001

 

Ansprache des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber anlässlich der zentralen Auftaktveranstaltung des Tages der Heimat am Samstag, 1. September 2001, in Berlin - "Leitwort: Im Zentrum – Vertreibung ächten"

- Manuskriptfassung -

"Ich bin fest überzeugt, dass wir am Beginn des Endes des kommunistischen Zeitalters in Osteuropa stehen". Das ist ein Satz aus der letzten großen deutschlandpolitischen Rede, die Franz Josef Strauß hier in Berlin, dem damals noch geteilten Berlin, am 11. September 1988 zur Eröffnung des 39. Tages der Heimat hielt. Einige Wochen später ist er verstorben, am 3. Oktober, seit 1990 der Tag der Deutschen Einheit.

Dies war ein prophetischer Satz. Ein gutes Jahr später fiel die Mauer, fielen die kommunistischen Regime in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, in Rumänien, später dann auch in der Sowjetunion selbst. Zwei Jahre später war unser Vaterland vereint. Das ganze, das freie Europa mit Ihren alten Heimatregionen konnte sich auf den Weg des Zusammenwachsens machen.

Ich stehe heute hier, wo mein Vorvorgänger vor 13 Jahren stand. Und ich bin gerne zu Ihnen nach Berlin gekommen. Am 28 September 1988, fünf Tage vor seinem Tod, schrieb Strauß an Herrn Dewitz, den Vorsitzenden des Berliner Landesverbandes der Vertriebenen. "Der Tag der Heimat in Berlin war für mich ein außerordentlich bewegendes Ereignis, an das ich stets gerne zurückdenke… Die Vertriebenen werden mich bei Ihren berechtigten Anliegen auch künftig an ihrer Seite finden." Dem letzten Satz möchte ich mich für meine Person aus voller Überzeugung anschließen.

Es war Franz Josef Strauß, der über all die Jahrzehnte hinweg immer wieder auf die großen Leistungen der Heimatvertriebenen für Bayern und für Deutschland hingewiesen hat. Diese Leistungen konnte ich sozusagen vor meiner Haustür sehen, in Geretsried, in Neugablonz, in Traunreut, allesamt junge Vertriebenensiedlungen, die heute blühende Städte in Bayern sind.

Es waren Franz Josef Strauß und die Union, die über die Jahrzehnte hinweg an der Seite der Heimatvertriebenen standen. Sie wissen sehr gut, dass Sie in den 70er und 80er Jahren innenpolitisch erheblichem Gegenwind ausgesetzt waren. Zu Unrecht, wie ich hinzufüge, denn Ihre Botschaft war stets eine friedliche, eine versöhnliche.

Ich stehe hier in Dankbarkeit vor dem großen Deutschen und Europäer Franz Josef Strauß. Wie kein anderer Politiker hat er die Deutschlandpolitik in die Tiefe und Weite der europäischen Geschichte hineingestellt. Kein anderer deutscher Politiker der Nachkriegsgeschichte hat so historisch gedacht und argumentiert wie Franz Josef Strauß. Dazu gehörte vor allem, dass Strauß unbeirrt an der Einheit der deutschen Nation festhielt, denn für ihn war die Teilung unseres Vaterlandes nie das letzte Wort der Geschichte. Er war es, der mit der Bayerischen Staatsregierung das bekannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 herbeiführte. Erst dieses Urteil hat die deutsche Frage offengehalten für die Antwort der Jahre 1989/1990.

Und es waren vor allem die Vertriebenen, die mit der Union unbeirrt an der Einheit der Nation festhielten. Von diesem Ziel hatten sich ja viele im Westen im Laufe der 80er Jahre verabschiedet. Noch 1989 taten so manche Politiker die kommende Einheit als "reaktionär" und als "Lebenslüge" ab. Was an der einen, freien, demokratischen Nation reaktionär sein soll, erschließt sich wohl nur dem, der dieses Wort im September 1989 gebraucht hat. Das war der damalige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Gerhard Schröder.

Dabei war längst gerade auch den Polen und Ungarn klar: Die Freiheit ihrer Nationen war mit der Freiheit und Einheit der deutschen Nation eng verbunden und umgekehrt. Beides bedingte einander. Und erst jetzt, im Verbund von deutscher Einheit in Freiheit und der Freiheit der Nachbarvölker eröffneten sich Chancen und Möglichkeiten, gemeinsam und im offenen Dialog sich jener Wunden und Verletzungen anzunehmen, die das 20 Jahrhundert geschlagen hatte.

Das ist im Kern auch die Botschaft der Charta der Heimatvertriebenen, an die wir heute erinnern. Der zentrale Tag der Heimat hier in Berlin und die vielen Tage der Heimat, die nun in allen deutschen Ländern folgen werden, erinnern an dieses großartige Dokument unserer Nachkriegsgeschichte.

In den Jahren nach 1945 waren im Zuge des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Neubeginns viele Grundsatzentscheidungen in Deutschland zu treffen, von Parteien, von Gewerkschaften, von Industrieverbänden und auch von den Vertriebenen. Das waren Positionsbestimmungen, die grundlegend wurden für unser Gemeinwesen, für den sozialen und inneren Frieden der jungen Bundesrepublik Deutschland, für den demokratischen Aufbau unseres Landes.

Zu diesen grundsätzlichen Positionsbestimmungen gehört für mich auch die Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Die Charta ist ein Dokument des inneren Friedens, denn die Heimatvertriebenen bekannten sich zur uneingeschränkten Mitwirkung am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland und damit zur vollen Integration und der inneren Annahme der neuen Heimat. Die Integration von Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen in das sich neu formierende deutsche Staatswesen war sicherlich eine der größten Herausforderungen nach der Katastrophe des Jahres 1945. Die Länder und später die Bundesrepublik Deutschland legten damit zusammen mit den Vertriebenen die Fundamente für einen tiefgreifenden, aber stabilen und sehr erfolgreichen Neubeginn. Integration ist das Gemeinschaftswerk der heimatverbliebenen und heimatvertriebenen Deutschen. Für die politische Kultur und die Stabilität in unserem Land war und ist die Verankerung der Heimatvertriebenen in der Mitte unserer Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Ideologen und Extremisten hatten in Ihren Reihen nie eine Chance.

Wir in Bayern wissen sehr gut, was wir den Heimatvertriebenen zu verdanken haben. Der Modernisierungsschub, der von den über zwei Millionen Heimatvertriebenen in meiner Heimat ausging, ist unübersehbar. Dafür gilt den Heimatvertriebenen großer Dank. Für diese Leistung gilt ihnen aber auch unsere Solidarität gestern, heute und morgen.

Die Charta ist ein Dokument des europäischen Friedens, denn die Vertriebenen bekannten sich zu einem gemeinsamen Haus Europa, "in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können." Die Teilung Europas, die Trennung zwischen Markt- und Planwirtschaft, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freiheit und Sozialismus verhinderte zunächst den Bau eines gemeinsamen Hauses. Nur der Westflügel konnte aufgebaut werden. Aber nach 1989 haben die deutschen Heimatvertriebenen auch diesen Programmsatz ihrer Charta in die Tat umgesetzt. Denn Sie bauen mit ihrem Engagement tatkräftig am Ostflügel mit.

Die deutschen Heimatvertriebenen sind ein konstruktiver und friedlicher Faktor beim Bau des europäischen Hauses. Wer anderes behauptet, wer sie als Revanchisten oder Ewig Gestrige in eine bestimmte Ecke stellen will, weiß nichts von den viel tausendfachen Begegnungen zwischen den deutschen Heimatvertriebenen und Polen, Tschechen oder Ungarn, der weiß nichts von den vielfältigen materiellen Leistungen für Kirchen, Friedhöfe, Denkmäler und Schlösser in der alten Heimat. Hier wird ganz selbstverständlich Europa von unten gebaut, hier wird ganz selbstverständlich gute Nachbarschaft gepflegt, hier wird ganz praktisch umgesetzt, was mit den Nachbarschaftsverträgen bewirkt werden sollte.

Und die Charta ist ein Dokument der Weiterentwicklung des Völkerrechts. Seit jener Charta, die Vertreibung ächtete und das Recht auf Heimat für Vertriebene anmahnte, und dank des unermüdlichen Wirkens der deutschen Heimatvertriebenen wird heute in vielen internationalen Dokumenten die Vertreibung als das bezeichnet, was sie ist, als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union z.B. bestimmt in Artikel 19, dass "Kollektivausweisungen unzulässig" sind. Dieser Art. 19 ist ebenso ein Fortschritt wie auch die jüngste Verurteilung des bosnischen Serbengenerals Radislav Krstic zu 46 Jahren Gefängnisstrafe durch das UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Milosevic sitzt im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess. Das ist die richtige, konsequente und rechtsstaatliche Antwort der Völkergemeinschaft auf das Verbrechen der Vertreibung. Nirgendwo auf der Welt und von niemandem kann heute mehr die Vertreibung von Menschen vor der Staatengemeinschaft legitimiert und gerechtfertigt werden. Dies ist sicher mit ein Erfolg der deutschen Heimatvertriebenen.

Um so anachronistischer steht z.B. heute immer noch ein Gesetz wie das sog. Amnestiegesetz vom Mai 1946 im europäischen Raum, das in der damaligen Tschechoslowakei die Verbrechen an Deutschen straffrei stellte. Dagegen ist es erfreulich, wenn in Polen der ehemalige Kommandant des Internierungslagers Lamsdorf, Czeslaw Geborski, vor Gericht steht.

Der Wert von Aussagen und Dokumenten, erweist sich erst dann, wenn sie über den Tag und den Anlass hinaus bleibende Bedeutung erlangen. Dies ist bei der Charta zweifelsohne der Fall. Es ist ein historisches und zugleich ein aktuelles Dokument. Denn die Aussagen der Charta haben nichts von ihrer Bedeutung verloren. Ein Dokument mit diesem Aufbauwillen und dieser europäischen Friedensperspektive 1950 zu formulieren, war seinerzeit alles andere als selbstverständlich. Aus Ihrer Charta spricht tiefer christlich-abendländischer Geist, aus dem heraus dieser Zukunftsentwurf gewagt wurde.

Denn damals, 1950, lebten die meisten Vertriebenen noch in Lagern und Sammelunterkünften, ohne Habe, zum Teil getrennt von Familien, verzweifelt, hoffnungslos, apathisch, voll Trauer über den Verlust von Angehörigen. Millionen blickten in eine ungewisse Zukunft. Hinter ihnen lagen Not und Tod, Flucht bei bitterer Kälte über die Ostsee oder das Riesengebirge, Todesmärsche, Vergewaltigungen der Frauen, Zwangsarbeit, Demütigungen aller Art.

Es ist selbstverständlich, dass Sie über all den Verlust, über das erfahrene Unrecht trauern. Die Vertreibung war ein tief einschneidendes Geschehen. Wer sie erdulden musste, wird dies sein Leben lang nicht vergessen. Lassen Sie sich, lassen wir uns daher von niemanden das Recht nehmen oder absprechen, über unsere Toten von Flucht, Vertreibung und Deportation zu trauern, über unsere Toten von Krieg, Gefangenschaft und Zwangsarbeit.

Leid ist nicht teilbar, Opfer sind nicht teilbar und sollten nicht unterschiedlich qualifiziert werden. Deutsche haben durch Russen, Polen, Tschechen und im Namen der jeweiligen Regime gelitten. Juden, Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen und viele andere Völker haben durch Deutsche und in deutschem Namen gelitten. Der Nationalsozialismus mit allen seinen Gräueltaten, mit all seinen Verbrechen an den Juden, an den Völkern im Osten, hat unsägliches Leid mit sich gebracht. Diese zwölf Jahre Nationalsozialismus stehen quer zu unserer Geschichte, quer zum Christentum, quer zum Humanismus, quer zur Aufklärung und Demokratie. Und diese 12 Jahre bestimmen in erheblichem Ausmaß unsere Gegenwart. Wer wollte auch deutsche Verantwortung leugnen! Wir bemühen uns um Aufarbeitung der NS-Geschichte im Innern und der Folgen der NS-Diktatur nach außen gegenüber denen, die davon massiv betroffen waren.

Aber trotz gebrochener Identitäten brauchen wir als Nation, brauchen wir als Volk und als Gemeinschaft Selbstvergewisserung, Selbstwertgefühl und Selbstachtung. Und zu dieser Selbstachtung gehört meines Erachtens die Trauer um die eigenen Toten, die Trauer um das Leid der Landsleute bei Flucht und Vertreibung, die Trauer um die Toten an der innerdeutschen Grenze und an der Mauer hier in Berlin. Auch da gibt es nichts zu verdrängen, nichts zu bagatellisieren. Trauer und Erinnerung an die Vertreibung müssen selbstverständlicher Teil unseres nationalen historischen und kulturellen Fundus sein. In jeder anderen europäischen Nation wäre das selbstverständlich. Dieser Erinnerungsfundus ist es, der uns als Einzelperson wie als Nation Identität gibt.

Prof. Arnulf Baring, der Festredner des vergangenen Jahres, hat dazu ausgeführt: "Es ist gut, dass wir um die Toten anderer Länder trauern, die dem Krieg zum Opfer fielen, der von Deutschland ausgegangen war. Aber wir sollten dabei die eigenen Toten nicht übergehen, sollten ihrer gedenken, weil sie am meisten vergessen sind und, wenn wir uns nicht ihrer erinnern, in einer kalten Welt keine anderen Freunde haben."

Wer sich nicht erinnert, bleibt namenlos, versinkt im Dunkel der Geschichte. Wer sich dagegen erinnert, bleibt unverwechselbar, behauptet seine

Identität. Diese Identität zu behaupten, war und ist die große Sorge der Heimatvertriebenen.

Denn sie erwarten zu Recht, daß die eigenen Landsleute Ihr Schicksal nicht verharmlosen, nicht unter den Teppich kehren, nicht einfach einen Schlußstrich darunter ziehen. Sie fragen daher: Wie geht die Nation mit der Erinnerung an das Unrecht der Vertreibung, mit der Erinnerung an die Toten, mit der Erinnerung an das kulturelle Erbe aus dem Osten um? Das ist eine berechtigte Frage an uns alle, an Staat und Gesellschaft. Und wir schulden der Erlebnisgeneration darauf glaubwürdige Antworten.

Ich sage immer: Je östlicher die Deutschen lebten, um so härter wurden sie von den Folgen des 2. Weltkrieges getroffen. Und die Heimatvertriebenen trugen zweifelsohne die größte Last aller Deutschen. Deshalb haben sie Anspruch auf unsere Solidarität. Und nachdem die wirtschaftliche und soziale Integration gelungen und abgeschlossen ist, mit Ausnahme der aus Russland kommenden Spätaussiedler, geht es jetzt um die volle kulturelle Integration im den Gesamtfundus der kollektiven Erinnerung unserer Nation.

56 Jahre sind seit der Vertreibung vergangen. Das sind zwei Generationen. Über Jahrzehnte hinweg haben vor allem Sie selbst das kulturelle Erbe getragen. Dahinter steckt ein ungeheueres ehrenamtliches Engagement, das nicht hoch genug zu würdigen ist. Jede Stadt ab etwa 20.000 Einwohner hat in Deutschland einen Kulturreferenten. Die Millionen Heimatvertriebenen, die zerstreut über Deutschland leben, hatten nur wenige hauptamtliche Kulturreferenten. Und diese wenigen wurden vom früheren Staatsminister für Kultur und Medien, Herrn Naumann, radikal dezimiert.

Ihren Stiftungen, die zudem eher bescheiden ausgestattet waren, wurden hart und kalt die Mittel entzogen. Diese Maßnahmen schmerzen. Denn man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die kulturellen Einschnitte aus ideologischen Gründen bewusst gewollt, Spargründe nur vorgeschoben sind. Die Ihnen zugefügten Einschnitte können heute nicht mehr durch erhöhtes ehrenamtliches Engagement aufgefangen werden. Denn wir stehen an der Nahtstelle von erlebter Geschichte zur Geschichte. Es geht jetzt vor allem um die historische Aneignung der Geschichte der Vertreibung, um den Prozess, den man Historisierung nennt. Dieser Prozess wird sich die nächsten zwei Jahrzehnte hinziehen. Dass ausgerechnet in dieser Phase bewährte kulturelle Institutionen zerschlagen wurden, ist ein herber Schlag. Es ist wichtig, dauerhaft verlässliche Strukturen zu schaffen, um Ihr und damit unser gemeinsames Erbe zu sichern und weiter zu entwickeln.

Und da sage ich deutlich: Dafür reichen die von 48 Mio. DM auf 33 Mio. DM gekürzten Mittel des Bundes in Zukunft nicht aus. Die Bundesregierung tut für die Bewahrung ostdeutscher Kultur in Tiefen- und Breitenwirkung eindeutig zu wenig.

Zu diesen verlässlichen Strukturen in der Zukunft gehört zweifelsohne das geplante Zentrum gegen Vertreibungen hier in Berlin. Wir errichten in Deutschland viele Erinnerungsstätten. Warum soll es nicht auch eine zentrale Einrichtung für die Erinnerung an Flucht, Vertreibung und Deportation an das Gesamtgeschehen dieses 20. Jahrhunderts geben, das auch das Jahrhundert der Vertreibungen genannt wird? Über 15 Millionen unserer Landsleute wurden davon betroffen, ca. zwei Millionen verloren ihr Leben. Ist dieses Geschehen denn nicht einer bleibenden Erinnerung in einer zentralen Institution an einem zentralen Ort unseres Landes wert?

Ich habe bereits mehrmals erklärt, wie das auch mein Kollege Erwin Teufel getan hat. Bayern wird seinen Anteil zu diesem Gemeinschaftswerk beitragen, und es muss ein Gemeinschaftswerk von Bund und Ländern werden.

Und für die Union kann ich sagen: wir wollen dieses Zentrum gegen Vertreibungen. Wir werden uns stetig dafür einsetzen, auch wenn sich der Kanzler dagegen sperrt. Dieses Zentrum gehört in den nationalen Erinnerungsbogen der gesamtdeutschen Geschichte. Dieses Zentrum entspringt unserer Solidarität gegenüber den Heimatvertriebenen, aber auch der Selbstachtung und Selbstvergewisserung unserer eigenen Geschichte.

Wer Geschichte verdrängt, wer Belastungen der Vergangenheit verdrängt und sie nicht anspricht, der dient im tiefsten Grunde nicht der Verständigung und der Aussöhnung. "Versöhnen kann nur, wer sich erinnert", so überschrieb ich meinen Artikel im Bayernkurier zur Erinnerung an den 40. Jahrestag des Mauerbaus. Zum Versöhnen gehört sicher auch das Verzeihen. Aber Verzeihen gründet sich nicht auf Vergessen, sondern ist nur im Erinnern möglich. Nicht von ungefähr heißt es: "Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung". In diesem Satz steckt tiefe menschliche Erkenntnis und Erfahrung. Verständigung durch Verdrängung oder gar Vergessen ist gewiss der schlechteste aller Wege in die Zukunft.

Das gilt für beide Seiten gleichermaßen: Für die Bundesregierung, für uns alle, wie für die Regierungen und Völker in unseren östlichen Nachbarstaaten. Der einfache Schlussstrich unter die Geschichte mag sehr bequem sein. Aber er ist nichts anderes als Flucht aus und vor der Verantwortung. Pikanterweise für die Bundesregierung, erfreulicherweise für Sie, kann man der Geschichte doch nicht so leicht aus dem Wege gehen. "Mit aller Macht kehrt ein Thema in den politischen Diskurs zurück, das man in der Bundesrepublik längst erledigt glaubte. Es schien seinen Platz nur noch bei den angeblich Ewig Gestrigen zu haben: Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße. Die Impulse für die Beschäftigung mit der Vertreibung gehen derzeit von Polen aus. Es ist dies ein Teil des Abschieds vom polnischen Mythos, in der Geschichte immer nur unschuldige Opfer, nie aber Täter gewesen zu sein." Das schrieb Thomas Urban in der Süddeutschen Zeitung vom 30.07.2001. Er verweist dabei auf ein vierbändiges Gemeinschaftswerk von deutschen und polnischen Historikern über die Vertreibung, dessen erster Band nunmehr erschienen ist. Auch dieses Werk ist ein weiterer Beleg dafür, dass das Thema Vertreibung in Polen offen diskutiert wird. Nicht das Verdrängen, sondern das offene Ansprechen befreit einen selbst. Dieses offene Ansprechen macht auch deutlich: man nimmt das Leid des anderen ernst.

In meiner Rede auf dem diesjährigen Sudentendeutschen Tag in Augsburg habe ich ausführlich auf entsprechende Stimmen in der Tschechischen Republik hingewiesen, die auf Anerkennung eigener Schuld, auf Entschuldigung und auf Verständigung mit den Sudetendeutschen hinwirken.

In beiden Ländern bewegt sich etwas in der Gesellschaft. Das begrüßen wir. Wir setzen darauf, dass sich in offenen, demokratischen Gesellschaften die historische Wahrheit durchsetzt, dass das lange von den Kommunisten aufgebaute Lügengebäude und das einseitige Geschichtsbild zunehmend der Vergangenheit angehören. Offene Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist Voraussetzung für das Aufeinanderzugehen derjenigen, die vor und nach 1945 in Europa unsäglich gelitten haben.

Viele Erfahrungen lehren, dass dabei der unmittelbare Dialog zur Verständigung führt. Wo miteinander gesprochen wird, wächst Verständnis, werden Wege in die Zukunft gebahnt. Dialog führt zusammen. Dialog bedeutet auch immer, angenommen zu werden als Gegenüber, angenommen zu werden mit seinem Schicksal.

Die Ansätze, die es zum Dialog gibt, zeigen, dass dies der richtige Weg ist. Die Vertriebenen sind bereit und fähig zu diesem Dialog. Sie suchen diesen Dialog. Die Vorstände der Landsmannschaften der Schlesier, Ostpreußen und Pommern waren schon öfters in Warschau und haben dort mit hochrangigen Vertretern Polens gesprochen. Die Vertriebenen haben dabei nachbarschaftlichen, europäischen Geist bewiesen. Soweit ich sehe, wird dies auch zunehmend in Polen erkannt und anerkannt.

Auf sudentendeutscher Seite ist dieser Dialog weitgehend institutionalisiert. Im Rahmen des Gesprächsforums hat sich ein Unterforum herausgebildet, das sich dezidiert Fragen der Vergangenheit annehmen wird. Es ist doch auch der Dialog, der die Angst vor den Heimatvertriebenen, die Angst vor Deutschland nimmt, sofern sie, freilich unbegründet, noch vorhanden ist.

Es muss auch vor der deutschen Öffentlichkeit herausgestellt werden: Sie haben in den vergangenen Jahren enorm viel im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geleistet. Sie sind zig-tausendfach aufgebrochen in die alte Heimat, nicht nur um in der Erinnerung zu schwelgen, sondern um ganz konkret zu helfen, um das Gespräch mit den heute dort lebenden Menschen zu suchen.

Sie haben damit Ihre Geschichte nichts ins Museum gestellt, wie das einst auch Außenminister Fischer oder die Bundestagsvizepräsidentin Vollmer wünschten. Sie haben die Geschichte nicht den Historikern überlassen, wie das von tschechischer Seite oft betont wird. Nein! Sie haben Ihr Schicksal und damit auch Ihre Geschichte selbst in die Hand genommen. Sie wollen zusammen mit den Polen, mit den Russen, mit den Tschechen die Geschichte Ostpreußens, Pommerns, Schlesiens

oder des Sudetenlandes weiterschreiben. Dass dies möglich ist, zeigen bereits die vielen Einladungen von Bürgermeistern an die Vertriebenen, zeigt z.B. auch, dass Herbert Hupka von seiner Heimatstadt Ratibor mit der Verdienstmedaille ausgezeichnet wurde. Wie beispielhaft sich Ungarn, der slowakische Staatspräsident Schuster oder der estnische Ministerpräsident Meri gegenüber den deutschen Vertriebenen verhalten, wissen Sie selbst am besten.

Polen und Tschechien sind Mitglieder der NATO. Sie stehen vor dem Beitritt zur Europäischen Union. Die EU-Osterweiterung ist zweifelsohne ein Vorgang von historischer Tragweite. In der Geschichte Europas wird damit ein neues Kapitel aufgeschlagen. Wir alle, auch die Vertriebenen, wollen grundsätzlich diese Erweiterung. Bauen an einem Europa, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können, ist ja eine Kernaussage Ihrer Charta.

Wir wollen aber diese EU-Erweiterung auf der Basis der Kopenhagener Kriterien gestalten. Und wir sollten diese Erweiterung so gestalten, dass keine Wunden aus der Vergangenheit zurückbleiben. Es ist nicht sinnvoll, wissentlich mit Belastungen in die Zukunft zu gehen.

Und die Vertreibungsdekrete, soweit sie die Vertreibung, Entrechtung und kollektive Ausweisung der Deutschen betreffen, sind eine Belastung. Vertreibungsdekrete, in welchem europäischen Land auch immer, haben in einer Europäischen Union keinen Platz.

Anachronistisch ist nicht das Verlangen der Vertriebenen, diese Dekrete endlich aus der Welt zu schaffen. Anachronistisch scheint mir vielmehr zu sein, dass diese Dekrete zwölf Jahre nach der europäischen Wende und dem Aufbruch zur Freiheit immer noch Bestand haben und gerechtfertigt werden.

Damit ich richtig verstanden werde. Es geht dabei nicht um materielle Dinge. Kein Mensch in Polen oder Tschechien muss um etwas fürchten. Wer wie die deutschen Heimatvertriebenen Vertreibung ächtet, der bedroht niemanden. Im Gegenteil: der versucht doch Menschen vor dem zu bewahren, was man selbst erlitten hat.

Es geht aber sehr wohl um das geistig-moralische Wertefundament Europas. Das betrifft alle Europäer. Und da sage ich: Vertreibungsdekrete passen nicht in eine Werteordnung, die diesen Kontinent, seine Völker und Nationen, in Zukunft tragen soll. Ächtung von Vertreibung, Recht auf Heimat, sind gemeinsame Werte, die die Völker Europas bei aller Unterschiedlichkeit miteinander verbindet.

Ich bin zuversichtlich, dass in den Ländern, in denen noch Vertreibungsdekrete existieren, die die Vertreibung der Deutschen betreffen, die Einsicht wächst, dass diese Staaten sich im Zuge des Beitrittsprozesses von solchen Dekreten verbindlich trennen. Und ich bin dankbar, dass auch der österreichische Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel beim diesjährigen Sudetendeutschen Tag, bei dem ihm der Karls-Preis verliehen wurde, klar und eindeutig gesagt hat: "Spätestens, das sage ich hier sehr deutlich, mit dem EU-Beitritt Tschechiens werden jene Benesch-Dekrete, die den europäischen Grundwerten widersprechen, der Vergangenheit angehören müssen."

Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass auf Dauer demokratische Gesellschaften und Staaten heute noch, am Beginn des 21. Jahrhunderts, Dekrete rechtfertigen und verteidigen können, die auf Unrecht, die auf Kollektivschuld gründen. Auch im Europäischen Parlament setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass solche Dekrete absolut nichts mit der europäischen Werteordnung von heute zu tun haben.

Es ist daher sehr bedauerlich, dass die rot-grüne Bundestagsmehrheit den Antrag "Versöhnung und Ächtung von Vertreibung" der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Jahr 1999 abgelehnt hat. Mit diesem Antrag sollte die Bundesregierung auffordert werden, zum Zwecke der Aufhebung entsprechender Dekrete sowohl gegenüber den östlichen Nachbarn wie gegenüber der Europäischen Union tätig zu werden.

Dennoch: ich meine, die deutschen Heimatvertriebenen können mit Zuversicht in die Zukunft blicken. Die Zeit arbeitet für sie. Ebenso der europäische Einigungsprozeß. Dies haben die Verfasser der Charta weitsichtig vorausgesehen.

Das Europa der Zukunft wird ein Europa der Nationen und Regionen sein. Die Vertriebenen haben ein lebhaftes Interesse daran, dass ihre alten Heimatregionen, dass Ostpreußen, Pommern, Schlesien, das Sudetenland oder Siebenbürgen einen angemessenen Platz in diesem künftigen Europa einnehmen.

Und die deutschen Minderheiten, die in diesen Heimatregionen noch leben, sind ein wichtiger Baustein in diesem Europa der Regionen. Nach über 40jähriger Unterdrückung von Kultur und Sprache, können sie sich seit nunmehr zehn Jahren frei entfalten. Diese kulturelle Entfaltung der deutschen Minderheiten braucht freilich unsere Unterstützung, die Unterstützung des Bundes wie die Unterstützung der Länder.

Bei meinem Besuch Ende Juli in Warschau hatte ich ein ausführliches Gespräch mit den Vertretern der deutschen Minderheit aus Schlesien, aus dem Ermland und Masuren. Ich ließ mich intensiv über ihre Situation informieren. Wenige Tage davor war die für die Vertriebenen zuständige Staatsministerin, Christa Stewens, in Allenstein und in Danzig. Bayern weiß sich den deutschen Minderheiten im Osten verbunden, ob in Rumänien, ob in Ungarn, ob in Tschechien und der Slowakei, ob in Polen, in der Ukraine oder Rußland.

Das deutsch-polnische Haus in Allenstein, das Eichendorff-Kulturzentrum in Lubowitz, der Germanistiklehrstuhl an der Universität Oppeln, das bayerische Haus in Odessa, Maschinenringe in Siebenbürgen oder viele Projekte im Sudetenland sind Breispiele unseres Engagements. Bayern zeigt Flagge, Bayern setzt ganz bewusst Zeichen für die deutsche Minderheit im östlichen Europa.

Und wir stehen an der Seite der Vertriebenen in Bayern. Das zentrale Vertriebenendenkmal in Nürnberg, die Gedenktafel für die Vertriebenen in der Staatskanzlei, der Schülerwettbewerb "Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn", das neue vom Kultusministerium initiierte Zeitzeugenprojekt mit Vertriebenen, die Aufnahme und Unterstützung der Schlesier in Nürnberg, nachdem das Land Niedersachsen die Patenschaft eingefroren hatte, all das soll den Vertriebenen in unserem Land zeigen: die Vertriebenen sind integraler Bestandteil des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens unseres Landes.

Meine Damen und Herren, ein Volk kann nicht von Tag zu Tag leben. Es braucht zu seiner Selbstvergewisserung und zu seiner Selbstachtung die Verwurzelung in seiner Geschichte, in seinen Traditionen, in seinem Brauchtum. Die Menschen tragen in sich die Liebe zu ihrer Heimat. Heimat, das schreibt Siegfried Lenz in seinem Roman Heimatmuseum treffend, bedeutet Unverwechselbarkeit. Heimat ist nach Lenz der Gegenpol zu Verwechselbarkeit, zu Anonymität.

Das ist es, was wir heute im Zeitalter der Globalisierung und des europäischen Zusammenwachsens brauchen: Heimat als stabiler Pol gegen den Verlust von Orientierung durch raschen Wandel, gegen ein Zuviel an Flexibilität und Mobilität. Heimat stiftet Identität, Erinnern stiftet Identität – und Identität ist Partizipation am kulturellen Gedächtnis der Nation. Die Botschaft von Wert und Bedeutung der Heimat für den einzelnen Menschen tragen die Heimatvertriebenen alljährlich mit den Tagen der Heimat hinaus.

Und ihre alte Heimat, auch das schreibt Siegfried Lenz, wäre erst dann endgültig verloren, wenn sich niemand mehr daran erinnerte. Sie erinnern an Ihre Heimat. Sie erinnern uns alle an Ihre Heimat. Sie mahnen damit uns alle, dass Ihre alte Heimat im großartigen Schatz unserer Geschichte für immer aufgehoben bleiben muss. Auf Bayern, auf den Bayerischen Ministerpräsidenten, dürfen die deutschen Heimatvertriebenen dabei zählen.